Das „Wunder” der Behinderung

Übersetzt aus dem Englischen, Original: JNS https://www.jns.org/opinion/the-miracle-of-disability/

Von klein auf habe ich gelernt, die Wunder um mich herum zu erkennen. Seien es der Auszug der Israeliten aus Ägypten, die unglaubliche Wendung des Glücks zu Gunsten der Juden in der Purimgeschichte oder der unerklärliche spirituelle und militärische Sieg der Hasmonäer, der uns das Hanukkah-Fest bescherte. Meine Eltern lehrten mich zudem, die Vielzahl an wundersamen Geschehnissen und Zufällen zu erkennen, die im Endeffekt meinen Großeltern zur Flucht aus der Hölle des Holocaust verhalfen. Auch die Gründung des Staates Israel und die alltäglichen Vorgänge in der Natur sehe und schätze ich als versteckte und doch offensichtliche Wunder.

Obwohl diese Art von Erziehung mich lehrte, die Welt aufmerksamer zu betrachten und die wundersamen Phänomene um mich herum mehr zu schätzen, muss ich zugeben, dass ich den Funktionen in meinem eigenen Inneren – den Komplexitäten innerhalb des menschlichen Körpers – wenig Beachtung schenkte – bis ich meine Arbeit bei ADI begann, dem israelischen Pflegenetzwerk für Kinder mit schweren komplexen Behinderungen.

Während ich zusah, wie viele Wunder um mich herum Tag für Tag geschahen, bekam ich ein tieferes Verständnis für die Feinheiten der Abläufe im menschlichen Körper und auch über die Stärke des menschlichen Geistes. Das kleine Mädchen, das „nie stehen“ würde, läuft jetzt ganz alleine. Das Baby, das „nur wenige Monate leben“ würde, entwickelt sich prächtig auch fünf Jahre später. Solche Negativprognosen rücken oft in den Hintergrund, während Kinder mit intellektuellen, kognitiven, entwicklungsbedingten und physischen Behinderungen die Grenzen ihres Potentials immer wieder hinter sich zurücklassen.

Ich musste auch feststellen, dass Behinderung selbst mehrere wundersame Eigenschaften innehat.

Zum einen bietet Behinderung ein irdisches Fenster in die himmlischen Möglichkeiten und öffnet Herzen und Köpfe mit übernatürlicher Kraft.

Die meisten Menschen neigen dazu, diejenigen mit schweren Behinderungen von Distanz aus zu bemitleiden. Während jedoch die Lücke zwischen den zwei Bevölkerungsgruppen immer kleiner wird und Inklusion von Behinderung immer normaler wird, hat die Welt langsam begonnen zu verstehen, dass diese Individuen unserer aufrichtigen Bewunderung würdig sind. Können Sie sich vorstellen, Ihr ganzes Leben ohne Wut, Eifersucht, Feindschaft oder Misstrauen zu leben? Ohne andere zu verletzen oder das eigene Selbstbewusstsein zu beeinträchtigen? Dies ist die Realität für die erstaunlichen Kinder, denen ich tagtäglich begegne, und ich bin in ständiger Ehrfurcht vor ihnen. […]

Behinderung besitzt auch eine fast schon himmlische Kraft, die in unserer Gesellschaft bestehenden Ungleichheiten auf eine Weise zu beleuchten, die tatsächlich einen Wandel fördert. Wo andere Bewegungen häufig Probleme damit haben, Stereotypen und Vorurteile hervorzuheben, hat die Behinderung die Zyniker erfolgreich zum Schweigen gebracht. Industrie, Bildung und Regierung wurden zur Verantwortung gezogen, etwas zu unternehmen. Und Menschen aller Fähigkeiten haben die Gelegenheit bekommen, sich gegen ein veraltetes Verständnis von Gleichheit zu stellen. Behinderung hat deutlich gemacht, dass es manchmal einfach nicht ausreicht, dasselbe wie alle anderen zu erhalten. Nur wenn wir auf richtige Gerechtigkeit hinarbeiten und sicherstellen, dass die Menschen das bekommen, was sie brauchen, um erfolgreich zu sein, zu wachsen und erfüllt zu werden, können wir uns als Gesellschaft wirklich weiterentwickeln.

Die jahrzehntelange Renovierung der historischen Altstadt Jerusalems ist ein perfektes Beispiel. Um ein altes Unrecht wiedergutzumachen, installierten sieben Regierungsstellen insgesamt zwei Kilometer Geländer neben Treppen und glatten Kopfsteinpflastersteinen, weiteten Korridore aus und fügten unzählige Rampen zu den Straßen und Wegen der Gegend hinzu; das alles um das Zentrum der jüdischen Geschichte, Spiritualität und Kultur endlich allen zugänglich zu machen, mit besonderem Augenmerk auf Rollstuhlfahrer und Personen mit Gehbehinderung. Der Anblick einer der berühmtesten antiken Städte der Welt, die zugunsten der Barrierefreiheit umgestaltet wurde, verursachte einen Welleneffekt und eröffnete einen Dialog zwischen Entscheidungsträgern der Regierung in Israel und im Ausland über Behinderung, Integration an allen Fronten und grundlegende Bürgerrechte.

Aber das größte Wunder von Allen ist meiner Meinung nach die seltsame Fähigkeit der Behinderung, alle Menschen zu vereinen, auch diejenigen, die behinderten Menschen oft gespalten gegenüber stehen.

Aus eigener Erfahrung kann ich Ihnen sagen, dass es ziemlich schräg ist, ADI zum ersten Mal zu besuchen – aber im positiven Sinne. An jedem Tag sieht man das gesamte Spektrum der israelischen Gesellschaft mit Menschen unterschiedlicher religiöser und kultureller Herkunft ; Juden aus säkularen und ultraorthodoxen Haushalten; diejenigen, die aus Äthiopien und der ehemaligen Sowjetunion eingewandert sind; und Drusen, Beduinen und arabische Israelis arbeiten, spielen und wachsen zusammen. Mitarbeiter und Freiwillige lassen ihre Meinungsverschiedenheiten und politischen Ansichten vor der Tür, um das Wachstum und die Entwicklung der Kinder zu fördern, die selbst einen ähnlich unterschiedlichen Hintergrund haben. Indem wir uns auf unsere gemeinsame Menschlichkeit konzentrieren, heilt diese Zusammenkunft von ungleichen Menschen aktiv unsere Welt.

Jetzt, nach etlichen Besuchen und einigen Jahren an Bord, denke ich selten über dieses Szenario nach, und das ist eine schöne Sache. Denn wahre Co-Existenz sollte die Norm für alle sein.

Während dem bevorstehenden Hanukkah-Fest werden Juden aller gesellschaftliche Nischen und Altersgruppen die Wunder dieser magischen Jahreszeit diskutieren. Oft fehlt es jedoch an Gesprächen über das Erkennen von Wundern, die wir jeden Tag erleben, und ich bin fest davon überzeugt, dass Behinderung eine der Hauptwunder unter diesen „Alltagswundern“ ist.

Eine einschränkende Kraft, die die Möglichkeiten der Menschheit grenzenlos macht. Ein isolierendes Phänomen, das uns alle verbindet. Beeinträchtigungen, die die Welt in den Mittelpunkt rücken, und Zwänge, die uns tatsächlich befreien.

Ich erkenne ein Wunder, wenn ich es sehe.

Elie Klein ist Leiter von Business Development (USA und Kanada) für ADI, Israels Netzwerk für die Betreuung von Kindern mit schweren komplexen Behinderungen, und ein internationaler Fürsprecher für Inklusion  und Gerechtigkeit für behinderte Menschen, sowie Barrierefreiheit.

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