Nur der Moment zählt

Eigentlich wollte ich einen Routinebesuch abstatten, mal mit unseren Freiwilligen sprechen. Doch schon bald, nachdem ich den kleinen Raum betrete, in dem eine Betreuerin mit einem Kind sitzt und unsere Freiwillige Johanna Amrhein mit einem Mädchen im Arm neben ihr, merke ich, dass ich hier etwas Einzigartigem beiwohne. Er herrscht eine Stille, eine Ruhe, die mich sofort in eine andere Welt versetzt. Das Leben draussen, ausserhalb der Mauern von ADI Jerusalem steht jetzt still. Meine eigenen Sorgen, meine Alltagsgedanken, die Arbeit, das gibt es jetzt alles nicht. Jetzt bin ich in der Welt von Johanna und Senait. In dieser Welt zählt weder die Verhangenheit, noch die Zukunft, nur der Moment. Auch Worte sind oft überflüssig, die Berührung allein genügt, um eine Verbindung herzustellen. Ich spüre, dass die Bindung zwischen Johanna und Senait sehr innig ist.

Zuerst erzählt mir Johanna von sich selbst und ihren Eindrücken hier bei ADI Jerusalem. Sie sagt, die Pflegerinnen hätten viel Geduld, Einfühlungsvermögen und würden die Kinder mit viel Liebe behandeln. Dass man hier eben keine Erwartungshaltung an die Kinder habe, sondern sie so nehme, wie sie sind und auf ihre Bedürfnisse eingehe. Als Freiwillige und als Ergotherapeutin wolle sie einen Beitrag leisten. Sie fühle sich im Umfeld wohl. Das sieht und spürt man. Und man hört es auch von der Pflegerin, die für die Kleinkinder zuständig ist. Racheli Levi berichtet mir sofort:“Johanna ist ganz besonders. Man merkt, dass sie sehr gewissenhaft ist, viel Empathie hat. Sie ist eine wahre Hilfe; wenn sie nicht da ist, merkt man das sofort.“ Sie zeigt auf das Mädchen in Johannas Armen. „Das Kind weint sehr oft. Sie ist zwar zwei Jahre alt, doch als „es“ passiert ist, war sie 5 Monate alt. Auf diesem Entwicklungstand ist sie jetzt. Wir können sie nicht immer tragen, doch Johanna hat sie beruhigt.“ Johanna erzählt mir dann, was „es“ war. Senait, Tochter eritreischer Flüchtlinge, hatte eine Atemwegsentzündung und sehr hohes Fieber. Ihre Eltern brachten sie ins Spital, sie wurde für die Atemwegentzündung behandelt und nach Hause geschickt. Doch dort verschlechterte sich ihr Zustand rasant. Plötzlich verlor sie das Bewusstsein. Sie hatte einen Herzstillstand erlitten, da der Virus das Herz angegriffen hatte. Sie wurde 40 Minuten lang wiederbelebt. Die Ärtzte schafften es, ihr Herz wieder zum Schlagen zu bringen, doch das Gehirn war bereits unumkehrbar schwerst geschädigt. Das Gehirn war zu lange nicht mit Sauerstoff versorgt worden. Dieses wunderschöne Mädchen wird nie wieder gesund. Sie ist für immer in ihrem Körper gefangen, als 5 Monate altes Kleinkind. Sie wird sich nie umdrehen können, sie kann kaum alleine schlucken. Sie wird nie sprechen. Die Eltern haben sich noch nicht damit abgefunden. Vielleicht, mit Johannas Hilfe, kann sie lernen, Objekte zu greifen. Es wird viel Geduld benötigen, Geduld, die Johanna zu ihrem Freiwilligendienst mitbringt. Ich muss mich jetzt zusammenreissen, kann nicht wirklich in Johannas Augen sehen. Ich höre Traurigkeit und als ich doch kurz aufblicke, sehe ich, wie auch sie mit den Tränen kämpft. Sie hält Senait eingewickelt in eine Schmusedecke, so wie ein kleines Baby. Sie schlummert friedlich vor sich hin. Doch dann öffnet sie ihre wunderschönen, grossen Augen. Man merkt: sie hört, sie spührt, sie fühlt. Da sage ich mir „nicht an die Vergangenheit denken, nur an den Moment.“ Und dann sagt auch Johanna: „ Naja, wir machen jetzt das Beste draus“. Das ist genau das, was ADI, seine Pfleger und seine Freiwilligen so besonders macht; diese Fähigkeit, dem Leben mit Freude entgegenzusehen, egal was war, egal was kommt. Ich bewundere das, denn für mich ist sowas schwer. Ich habe eine kleine Tochter und an diesem Abend renne ich zu meinem Mann und sage: “ich kaufe neue Thermometer. Sollte sie Fieber bekommen und das steigt über 39 Grad, ich renn gleich ins Spital!“ Mein Mann schaut mich etwas verwirrt an; er weiss natürlich nichts von Senait und von Johanna. Aber dann denke ich an meine letzte Frage an Johanna: Macht es dir Angst? Ihre Antwort: „Klar macht man sich Gedanken, aber ich habe da ein Gottvertrauen, dass es nicht dazu kommt. Also nein, Angst habe ich nicht.“

Ich nehme mir Johanna, unsere Freiwillige bei ADI, zum Vorbild. Als meine Tochter friedlich schlummert, streiche ich ihr übers Haar, während ich an Senait denke und was wirklich zählt im Leben.

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