Fünfunddreißig Grad im Schatten (den es aufgrund mangelnder Vegetation nur an ausgewählten Stellen gibt), keine einzige Wolke am Himmel (meistens), staubtrockene Erde unter den Füßen, an den Bäumen und Sträuchern hängen (über)reife Oliven und Granatäpfel.
Auf meiner mentalen Liste, was ich mit diesen Eindrücken verbinde, stehen Silvester und Neujahr ziemlich weit unten.
Und was feiern wir gerade? Rosh Hashanah, den „Kopf des Jahres“, nach jüdischem Glauben den inzwischen fünftausendsiebenhundertneunundsiebzigsten Jahrestag der Schöpfung des Menschen, auf gut Deutsch gesagt also Neujahr. Seit Sonntagabend wird dieses begrüßt, und es wird am heutigen Dienstagabend enden, aber schon seit fast einer Woche verabschieden wir uns mit Shanah tovah, wünschen uns also ein gutes Jahr.
Und wie zu Silvester auch gehören zu Rosh Hashanah viele verschiedene Traditionen und Bräuche, die wir zum einen in ADI und zum anderen durch eine spontane Einladung bei einer Familie, die bei uns im Ort wohnt, erleben durften.
In ADI wurde das neue Jahr schon am vergangenen Donnerstag begrüßt, da die meisten jüdischen Mitarbeiter*innen von Freitag an bis heute frei hatten (Freitag und Samstag erst das jüdische Wochenende und dann die Feiertage). Zusammen mit einigen Banot Sherut des letzten Jahrgangs (Banot Sherut sind junge jüdische Frauen, die aus religiösen Gründen nicht zum Militär gehen, wie es in Israel eigentlich Pflicht ist, sondern stattdessen einen Zivildienst leisten) feierten sie mit Musik und traditionellen Speisen den Jahresbeginn. So gab es für die Bewohner in Honig getunkten Apfel und Dattelmus, was beides für den Wunsch eines süßen neuen Jahres steht, und Granatapfelsaft, da die große Anzahl an Kernen, die man in einem Granatapfel findet, Fruchtbarkeit und die vielen jüdischen Gebote symbolisiert, von denen man sich vornimmt, sie im kommenden Jahr zu befolgen. Normalerweise werden die Datteln und Granatapfelkerne in nicht-verarbeitetem Zustand serviert, aber einige der Bewohner könnten aufgrund ihrer Beeinträchtigungen dann nicht an dem Essen teilnehmen.
Auch in den folgenden Tagen wurden wir nicht nur durch ein gelegentliches Shanah tovah an das neue Jahr erinnert, auch die Lieder zu Rosh Hashanah ersetzten die israelischen Popsongs, die meistens bei der Arbeit zu hören sind.
Und da einige Banot Sherut auch am Shabbat noch in ADI waren, wurde auch dieser diesmal am Samstagmittag gefeiert: Zusammen mit den Bewohnern wurde wieder gesungen und ein Segen über Brot und Wein (die unvergorene Version) gesprochen.
Für den Sonntagabend, also den Beginn von Rosh Hashanah, hatte ADI für alle Freiwilligen eine Gastfamilie organisiert, mit denen wir am Rosh Hashanah Erev das neue Jahr begrüßen konnten. Leider erreichte uns nachmittags die Nachricht, dass Lilian, unsere Gastgeberin, kurzfristig krank geworden war. Doch nur ein paar Minuten später klopfte es an der Tür unseres Freiwilligenhauses in Ranen, und ein uns fremder Mann erklärte uns, dass an diesem Abend das neue Jahr beginnen würde und er und seine Familie uns gerne zum Abendessen einladen würden. Gerne sagten wir zu, und so machte sich gegen halb acht eine kleine Gruppe, bestehend aus zwei Deutschen, einer Taiwanesin und einer Katalonierin, auf zum Haus der Eltern des Mannes, der uns eingeladen hatte. Leider ist mein Namensgedächtnis ziemlich miserabel, und der ungewohnte Klang der Namen hier macht das Ganze nicht einfacher…deshalb fehlen sie an dieser Stelle.
Den Abend verbrachten wir dann mit ebenjenem Mann (mit ägyptischen Wurzeln), seiner Frau (ursprünglich aus der Ukraine), ihrem zwölfjährigen Zwillingstöchtern, der Schwester und dem Bruder des Gastgebers mit ihren Partner*innen und deren Kindern. Obwohl die Familie nicht religiös ist, konnte man auch auf ihrem Tisch einige der traditionellen Speisen finden, wie einen ganzen Lachs, bei dem der Rosh, also der Kopf, symbolhaften Charakter hat, und zur Nachspeise Granatapfelkerne und Datteln, die wir hier das erste Mal nicht getrocknet, sondern frisch aßen, sowie einen von einer der Töchter gebackenen Kuchen in Form eines Granatapfels.
Nach Kaffee (schöner israelischer Kaffee mit dem Kaffeesatz unten) und Tee luden uns der Mann, der uns ursprünglich eingeladen hatte, und seine Frau zu sich nach Hause ein, und wir unterhielten uns über unsere Eindrücke von Israel und über politische Themen aus unseren jeweiligen Heimatländern, von Steuern über Wehrdienst bis hin zu separatistischen Bewegungen, einfach nur aus gegenseitigem Interesse und ohne in Diskussionen über kontroverse Themen wie dem Nah-Ost-Konflikt. Nachdem sich unsere Gastgeber nicht nehmen lassen konnten, uns einen riesigen Korb voller Süßigkeiten zu schenken und uns zum Schwimmen in ihrem Pool einzuladen, machten wir uns auf den Heimweg, da die meisten von uns am nächsten Tag wieder morgens um sieben Uhr in ADI sein mussten.
Davon war ich glücklicherweise verschont geblieben und kam erst zur Abendschicht um vierzehn Uhr, die diesmal von einer großen Ruhe und irgendwie auch Bedächtigkeit und Feierlichkeit geprägt war. Abends wurde unser Haus dann von zwei jüdischen Männern besucht, die mit dem Schofar, einem aus Widderhorn gefertigten Instrument, das neue Jahr begrüßten. Dazu wurde zunächst ein Segen über den Schofar gesprochen, der dann auf traditionelle Art und Weise gespielt wurde.
Für uns war es sehr schön zu sehen, wie Neujahr in unserem neuen Zuhause gefeiert wird und irgendwie passt es auch, dass dieses Fest ziemlich am Anfang unserer Zeit hier steht und damit mit den folgenden Feiertagen Jom Kippur (Versöhnungstag) und Sukkot (Laubhüttenfest) einen Startschuss dafür gibt. Andererseits fühlt es sich auch komisch an, in gewisser Weise sagen zu können, dass wir noch dieses Jahr wieder nach Deutschland zurückkehren werden. Aber das neue Jahr hat ja gerade erst begonnen und bietet uns noch viel Zeit für neue Erfahrungen und Abenteuer.
Übrigens: Rutsch – Rosh?! Da könnte man einen Zusammenhang vermuten, und tatsächlich ist eine Theorie, dass der deutsche Rutsch ins neue Jahr seinen Ursprung im hebräischen Rosh hat.
Ich habe mich entschlossen, diesen Blog mit dem neuen Jahr hier zu beginnen, weshalb dieser Eintrag vielleicht etwas unvermittelt erscheint. Ich werde versuchen, so schnell wie möglich in einem oder mehreren Artikeln etwas aus den ersten Wochen, zu unserem Startseminar in Jerusalem, zur Arbeit und zum Leben hier und unseren bisherigen Ausflügen, zu berichten.
Quelle: https://einjahrvollergranataepfel.wordpress.com/2018/09/11/shanah-tovah