Wie eine Bergstedterin in Coronazeiten das „Richtige“ tat
Text: Dina Rahamim
Das Schöne an Hamburg ist ja die Tatsache, dass die Hafenstadt einen vielfältigen Mix an unterschiedlichen Menschen anzieht. Aus der UdSSR, Iran, USA und auch Israel. Das Heilige Land ist zwar in Bezug auf Temperament (und auch Wetter) nicht so cool wie unser Norden, ist aber auch ein Chulentpott, in dem ich mich seit vier ein halb Jahren heimisch fühle. In diesem Chulent hat sich Ende 2019 auch Silke Kampmann wiedergefunden, als sie sich dazu entschlossen hatte, für ein Jahr nach Israel zu kommen, um bei ADI Israel als Freiwillige zu arbeiten. (ADI – ehemals ALEH – ist ein wohltätiges Netzwerk von Pflegeeinrichtungen für Menschen mit schweren multiplen Behinderungen, dazu aber gleich noch mehr.) Ich meinerseits arbeite bei ADI im PR-Bereich und hatte mich sehr gefreut, gerade während der Corona-Isolation. eine Mit-Hamburgerin.
Dabei hätten Silke und ich von unseren Hintergründen her nicht unterschiedlicher sein können. In der ehemaligen Sowjetunion geboren und in unserer wunderschönen Hafenstadt aufgewachsen, hätte ich mir nicht im Traum gedacht, dass ich jemals in Israel leben würde. Ich hatte nämlich bereits knapp zwei Jahre lang in Jerusalem verbracht (2010-2012), als ich eine religiöse Schule für Frauen besucht habe. Damals war der Kulturschock zur hitzigen, nahöstlichen Mentalität aber etwas zu groß für meinen nordischen Geschmack. Als ich nach Deutschland zurückkehrte, absolvierte ich eine Ausbildung zur Personaldienstleistungskauffrau (ist Deutsch nicht eine schöne Sprache!), und dann hat mein Leben eine unerwartete Wendung genommen: Verliebt, verlobt, verheiratet, und gleich – ha-ha, die Ironie – nach Israel ausgewandert! Der werte Herr, den ich inzwischen Ehemann nenne, hat damals in einem Rabbinerseminar in Jerusalem studiert, und da hat er mich gleich nach unserer Hochzeit importiert. Kennengelernt hatten wir uns ganz altmodisch und modern zugleich, nämlich über eine Heiratsvermittlerin, „gedatet“ wurde aber über Skype. Inzwischen leben wir schon seit über vier Jahren samt zwei Kindern mitten in Jerusalem, und ich arbeite seit knapp zwei davon bei ADI Israel. Auch wenn ich schon länger nicht mehr dort wohne, vermisse ich meine Perle Hamburg schon sehr.
Da hat Silke mir frischen nordischen Wind gebracht. Die 58-Jährige hat ursprünglich Theologie studiert und sich sogar zur Diakonin ausbilden lassen (ok, das Religiöse haben wir gemeinsam, halt nicht die gleiche Religion), hatte in ihrem Leben aber viele Jobs inne, nicht zuletzt als Ehefrau und Mutter von zwei Kindern. Inzwischen ist sie als Heilerziehungspflegerin tätig und hat damit ihre Berufung gefunden. Wer hätte das gedacht, dass wir uns von allen Orten auf der Welt gerade in Israel treffen würden?
Israel, und auch ADI hat halt eine magische Anziehungskraft. Ja, ADI ist eine Einrichtung für Menschen mit schweren Behinderungen, aber falls Sie jetzt aufhören wollen zu lesen, weil die Geschichte von diesem Punkt an wahrscheinlich superdeprimierend werden wird, keine Sorge – ADI ist alles, nur nicht deprimierend! Unsere Kernphilosophie ist es, dass jedes Leben lebenswert ist. Wir investieren in die Leben dieser wundervollen Menschen, fördern sie durch individualisierte Therapieprogramme, Spiel und Spaß. Hier haben sie ein liebevolles Zuhause und Freunde. Freiwillige kommen zu uns sowohl aus der Gegend (Schulkinder, Soldaten, Rentner) als auch aus aller Welt: Aus den Niederlanden und aus Kolumbien, Taiwan und Australien. Und eben auch aus Deutschland. Da Silke also Israel mal hautnah erleben wollte und das ADI-Freiwilligenprogramm sie ansprach, hat sie ihre Koffer gepackt und ist ab ins Heilige Land.
Innerhalb von ADI hat sie mal in Jerusalem und mal in unserer Niederlassung in der Negev gearbeitet – wo sie gebraucht wurde, war sie da. Ob Basteln, Vorsingen, beim Essen helfen oder spazieren gehen, ADIs Freiwillige sind da, um zu helfen, und Silke war keine Ausnahme. Wobei man dazu auch sagen muss, dass, als sie im Oktober 2019 hier ankam, sie sich nicht hätte träumen lassen können, wie sich ihr – und das globale – 2020 entwickeln würde. Als die deutsche Botschaft im April des vergangenen Jahres alle Freiwilligen dazu aufforderte, wieder nach Deutschland zurückzukehren, hatte Silke sich entschieden, hierzubleiben: „Geplant war ein Jahr, und dieses Jahr wollte ich hier auch zu Ende machen. Ich hatte nicht das Gefühl, dass ich dieses Kapitel abgeschlossen hatte, und deswegen bin ich geblieben, wo ich gebraucht wurde.“ Und gebraucht wurde sie definitiv: Während des ersten Lockdowns wurde etwa die Hälfte des Personals von ADI als nicht-essenziell eingestuft und nach Hause geschickt; über die Hälfte unserer Freiwilligen war in ihre Heimatländer zurückgekehrt; da war wirklich Not am Mann, aber Silke hat einen kühlen Kopf bewahrt und sich motiviert in die Arbeit gestürzt. Zum Ende ihres Einsatzes war sie sogar in der Waschküche in Negev aktiv, aus schierem Personalmangel. „Man hilft halt da, wo man gebraucht wird!“ Silkes christlicher Glaube hat ihr während der schwierigen Zeit, fern von Deutschland, sehr geholfen. „Es war eine Herausforderung, was soll ich sagen. Ich bin gekommen, um zu helfen, und jetzt wurde diese Hilfe mehr denn je benötigt. Man kommt an seine Grenzen, aber die sind manchmal flexibler als gedacht. Und meine Verbindung zu Gott ist während meiner Zeit bei ADI nur stärker geworden.“
„Das Schöne an ADI ist ja auch, dass hier so viele Menschen zusammenkommen, seien es Christen, Muslime oder Juden, Religiöse oder Säkulare, Palästinenser, Drusen oder Beduinen: Alle sind hier, um für die Kinder da zu sein und sie maximal zu fördern. Alle potentiellen Konflikte werden vor der Tür gelassen. Hier herrscht eine positive Atmosphäre, die auch Israelbesucher aus aller Welt anlockt. Ob nun Banker, religiöse Gruppen oder Abiturienten: Alle sind begeistert von der Liebe, die den Kindern bedingungslos gegeben wird. „ADI inspirierte mich dazu, mein eigenes Leben zu schätzen, aber auch dazu, mehr Initiative zu ergreifen und öfters mal eine helfende Hand zu reichen“, so Silke.
Dieses eine Jahr ist dann im Endeffekt schneller vergangen als gedacht. Ende 2020 war Silke wieder zu Hause in unserer schönen Hafenstadt, und ein bisschen „Heimweh“ nach Israel hatte sie schon. Die Verbindung zu ihren ehemaligen Kolleginnen aus der Wäscherei hilft ihr, darüber hinwegzukommen: Jeden Samstagabend telefoniert Silke mit Anat (Jüdin mit Wurzeln in Marrakesch) und Hanan (Muslima aus Marrakesch), wenn die zwei Kolleginnen eine kleine Pause während ihrer Nachtschicht einlegen. Die drei Damen plaudern in einem wilden Mix aus Hebräisch, Englisch und Hand-und-Fuß-Sprache – Videotelefonie sei Dank. „So halte ich sowohl meine Erlebnisse als auch mein Hebräisch frisch.“ Und auch für Silkes Familie sind diese Telefonate immer ein Erlebnis, denn so bekommen sie einen kleinen Einblick in Silkes aufregende Zeit in Israel.
Wie oft weiß man, was das Richtige ist, hat aber nicht den Mut (oder die Motivation?) in die Puschen zu kommen und was zu machen? Ich denke, dass wir uns alle ein Beispiel an Silke nehmen können: Die Bergstedterin ist verheiratet, hat zwei (große) Kinder und einen festen Job. Sie hat diverse Verpflichtungen und allgemein einen geregelten und ganz normalen Alltag. Trotzdem hat sie sich nach Israel aufgemacht, um etwas Gutes zu tun, und als die Coronakrise uns plötzlich überraschte, hat sie ihre eigene Sicherheit aufs Spiel ins gesetzt, um für andere da zu sein. Dabei fanden das manche recht befremdlich, dass sie in der Wäscherei tätig war. „Dafür bist du doch nicht gekommen, um Wäsche zu waschen!?!“ Aber ganz nach Hamburger Art sagte sich Silke „durch da!“ und machte sich an die Arbeit. Sie weiß halt, was das „Richtige“ ist. Ich hoffe, dass diese erstaunliche Mit-Hamburgerin Sie, liebe Leserinnen und Leser (und auch mich selbst!) dazu inspirieren wird, mehr Initiative in unserem Leben zu ergreifen und öfter das „Richtige“ zu tun.
ADI Israel ist eine wohltätige Organisation, die sich für das Wohl von Kindern und Erwachsenen mit schweren multiplen Behinderungen einsetzt. Ob für Bewohner oder ambulante Patienten, das Pflegenetzwerk investiert in jeden einzelnen, um ihm ein würdiges und freudiges Leben zu ermöglichen. Wenn Sie an einem Freiwilligendienst interessiert sind oder einfach mehr über ADI erfahren möchten, besuchen Sie doch unsere Seite: www.adi-israel.de.
Für Spenden: Berliner Sparkasse, IBAN: DE10 1005 0000 0190 9612 52 Verwendungszweck: Hamburg HaYom
Quelle: Ha Yom – Yüdische Gemeinde in Hamburg – 21. Ausgabe – Mai/June 2021 – Ijar/Siwan/Tammus 5781